Nicht ohne Grund wurde in Argentinien bis vor wenigen Tagen von der längsten Quarantäne der Welt gesprochen. Was bedeutet dies in der argentinischen Realität für Unternehmen und Bevölkerung?
Nur wenige Tage nachdem COVID-19 von der WHO zur weltweiten Pandemie erklärt wurde, entschied sich die argentinische Regierung für einen unmittelbaren und breiten Lockdown der Wirtschaft und einer strikten Ausganssperren für die Bevölkerung. Obgleich zu diesem Zeitpunkt die Infektionszahlen sehr gering waren, galten diese Einschränkungen landesweit (zunächst) für einen Monat. Diese strikte Isolation wurde im Großraum Buenos Aires über sechs Monate aufrecht erhalten, mit einigen sukzessive implementierten Lockerungen für Handel, Industrie und einer Handvoll Gewerke. In weiten Teilen des Landes galten und gelten hingegen, jeweils in Abhängigkeit von der Entwicklung der Pandemie-Situation, unterschiedliche Regeln, teilweise vergleichbar mit dem „Kontaktverbot“ in Deutschland. Nachdem in der zweiten Augusthälfte einige Provinzen im Landesinnern in kurzer Zeit rasant steigende Infektionszahlen meldeten, wurden auch dort die Einschränkungen erneut verschärft. Die Außengrenze Argentiniens ist weiterhin geschlossen, der internationale Flugverkehr soll voraussichtlich Anfang Oktober wieder aufgenommen werden, ebenso wie die Flüge innerhalb des Landes. Derzeit gibt es neben den Cargo-Flügen lediglich vereinzelte Repatriierungs-Flüge einiger europäischer und US-amerikanischer Airlines. Heute ist der Grad der Betriebstätigkeit der Unternehmen immer noch niedrig und die Erholung der bereits vor der Pandemie angeschlagenen Wirtschaft kommt nur zäh in Gang. Laut der von der Stiftung Observatorio Pyme (auf den Mittelstand spezialisierter Think Tank) erhobenen Daten waren Anfang Juni im gesamten Bundesgebiet lediglich 26 % der KMU voll betriebsfähig, der Rest nur teilweise oder gar nicht. Im Großraum Buenos Aires waren Anfang April sogar nur 10 % der Unternehmen voll betriebsfähig, während 55 % gar nicht operativ waren. Im Juni stieg die volle Betriebsfähigkeit auf 20 %. Jüngste Umfrageergebnisse aus dem Erhebungszeitraum Juli-August unter Unternehmen mit zehn bis 249 Beschäftigten zeigen, dass die mittelständische Fertigungsindustrie im gesamtargentinischen Durchschnitt bereits zu 49 % voll betriebsfähig ist. KMU ähnlicher Größe der Software- und IT-Dienstleistungsindustrie gaben im gleichen Zeitraum zu 66 % an, voll betriebsfähig zu sein.
Die argentinische Regierung entwickelte ein Wirtschaftspaket in Höhe von ca. 8,5 Mrd. Euro, was etwa 2 % des argentinischen BIP entspricht und Maßnahmen wie Überbrückungskrediten für Sicherstellung der Versorgung und Produktion von Lebensmitteln und Gesundheitsartikeln oder der Befreiung von Arbeitgeberbeträgen. Diese teilweise implementierten Hilfs-Pakete kommen häufig nicht bei ihrer Zielgruppe an, da entsprechende Anträge und Genehmigungen gar nicht, oder sehr langsam bearbeitet werden. Gerade die Überbrückungskredite erreichen die KMU oft auch aufgrund hoher Informalität gar nicht oder nur unzureichend: So konnten 54 % der Unternehmen auf nationaler Ebene im Monat Mai selbst unter Berücksichtigung der von der Regierung angebotenen Unterstützung nicht einmal 60 % ihrer Fixkosten und Verpflichtungen decken. Etliche Produktionslinien, die seit März stillgelegt waren, konnten erst im Juni oder noch später wieder in Betrieb genommen werden. Gemäß der August-Umfrage des Argentinischen Industrieverbands UIA erwarten die Unternehmen bis Ende des Jahres eine leichte Verbesserung. Über die Hälfte der befragten Unternehmen (58 %) erwarten allerdings Produktionsrückgänge von über 25 %.
Vor dem Hintergrund des starken Rückgangs der Wirtschaftstätigkeit in Argentinien und der Welt, sind sich die meisten lokalen Wirtschaftsverbände und Unternehmensvertreter darüber einig, dass für einer Rückkehr zu einer Situation wie der vor März bezüglich Produktion und Beschäftigung weit mehr nötig ist als die Einbindung der 15 % noch "nicht operierenden" Unternehmen in das System.
Corona als Digitalisierungs-Beschleuniger
Ein starker Fokus liegt in diesem Zusammenhang auf der Implementierung von Digitalisierung, angefangen beim Home-Office. Die Umstellung der Produktionsprozesse auf Telearbeit wird in den kommenden Monaten ein großes Segment der argentinischen Unternehmen betreffen … und es wird auch Zeit. Lediglich 3 % der Unternehmen verfügten früher über die Möglichkeit, heute können 50 % der Aufgaben aus dem Home-Office erledigt werden. Alle Sektoren durchlaufen die digitale Transformation, die COVID-19-Pandemie hat diese beschleunigt und bedeutet für viele eine steile Lernkurve. Von der Schaffung digitaler (Dienst-) Leistungen über die Nutzung von e-contracts und elektronischen Unterschriften bis hin zum E-Commerce, der innerhalb eines Jahres um mehr als 55% wuchs: Einige Unternehmen haben in nur wenigen Monaten technologische Hindernisse überwunden, die ohne den durch Covid-19 induzierten Impuls mehrere Jahre benötigt hätten, diese Transformations- oder Expansionsprozesse in Gang zu setzten. Diese Unternehmen zeichnen sich in der Regel durch ihre Belastbarkeit, ihre Flexibilität, ihre Kreativität und ihre Bereitschaft aus, sich aus ihrer „comfort zone“ herauszubewegen. Unternehmen, die diese komplexe Zeit voller neuer Herausforderungen und exponentieller Veränderungen für einen eigenen Innovationsschub nutzen, können sogar gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.
Die Pandemie macht deutlich, wie essenziell Digitalisierung und Technologie auch im privaten Leben sind. Durch die strikte Ausgangssperre in Argentinien mangelt es der Bevölkerung an sozialen physischen Kontakten. Während in Deutschland das Leben mit kleinen Einschränkungen recht schnell in die „neue Normalität“ startete, saßen und sitzen die Menschen im Großraum Buenos Aires seit über 180 Tagen in einer strikten Ausgangssperre. Videocalls über Whatsapp, Skype und Zoom erfuhren auch hierzulande einen Boom. Unzählige Geburtstage wurden seit März virtuell gefeiert. Außer Einkäufen im Supermarkt und dem Gang zur Apotheke im 500-Meter-Radius war für die argentinische Bevölkerung in den ersten Monaten nichts möglich. Mittlerweile ist Sport im Freien, wie zum Beispiel Joggen, erlaubt, zunächst ab 20:00 Uhr, aktuell ohne zeitliche Einschränkungen. Einige dafür geeignete Parks sind allerdings noch geschlossen. Anfang des Monats unternahm die Stadtregierung den Versuch, Restaurants und Bars im Stadtgebiet mit Hygieneprotokollen und nur im Freien öffnen zu lassen. Von einem Leben in Freiheit mit Mundnasenschutz träumen die Argentinier allerdings noch.
Diese Einschränkungen über einen so langen Zeitraum geht bei vielen Menschen an die Substanz und hinterlässt nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und psychologische Auswirkungen. Das Schwierigste an der Situation ist wohl die Unsicherheit darüber, wann dies alles endet. Ähnlich wie in der Privatwirtschaft sind zwar staatliche Subventionen in Form von Sonderboni für Rentner und Sozialhilfeempfänger und Finanzhilfen für einkommensschwache Haushalte vorhanden, aber sie reichen bei weitem nicht aus. In Argentinien sind über 50 % aller Arbeitsnehmer in der informellen Wirtschaft tätig. Diese trifft es besonders hart, in Ermangelung von Arbeitsverträgen entziehen sich diese Arbeitsplätze der staatlichen Kontrolle und eben auch deren Schutzmechanismen. Kaum öffentliches Leben ist dann in vielen Fällen gleichgesetzt mit kaum Einkommen. Neben den sozialen Kontakten fehlt es diesen Menschen dann darüber hinaus an materieller Grundsicherung, was wiederum den Grundstein legt für die Spirale zu mehr Armut einhergehend mit steigender Unsicherheit.
Der Spagat, den Argentinien seit geraumer Zeit machen muss zwischen steigenden Infektionszahlen einerseits und dem wachsenden Druck zur Aktivierung der Wirtschaft andererseits, ist an einem kritischen Punkt angekommen. Wirtschaft und Bevölkerung warten auf Ankündigungen der Regierung zu einem konsistenten Konzept zur Wiederaufnahme der produktiven, kommerziellen und gesellschaftlichen Tätigkeit im Land.
Dank Digitalisierung konnten sich viele Unternehmen zwar über Wasser halten und soziale Kontakte fühlten sich trotz räumlicher Distanz für einen Moment näher an. Allerdings ist es unumgänglich, die wirtschaftliche Tätigkeit und das gesellschaftliche Leben in der „neuen Normalität“ und unter Beachtung entsprechender Hygiene-Protokolle alsbald wieder aufzunehmen. Wir erleben einen durch die Corona-Pandemie angeschobenen Paradigmenwechsel bezüglich Arbeitsorganisation, Vertrieb und Marketing sowie der strategischen Ausrichtung industrieller Produktion und internationaler Handelswege. Nutzen wir diese Krise gemeinsam, um zielorientiert an den notwendigen Veränderungen zu arbeiten und den Übergang in die „Neue Normalität“ zu erleichtern.
Anna Billharz
abillharz@ahkargentina.com.ar