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Mileis bester Moment?

17.12.2024

Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika

Die Börse boomt, die reale Wirtschaft erholt sich langsam. Das Investitionsprogramm RIGI trägt erste Früchte und die Zustimmung zur Regierung bleibt trotz schmerzhafter Reformen und rabiater Umgangsformen stabil auf hohem Niveau. Auch international setzt Milei seine Marken. Doch wie weit kommt Milei mit seiner Politik der permanenten Konfrontation, dem „Allein gegen Alle“ im In- und Ausland? Was könnte die Wahl Trumps für Argentinien und Milei bedeuten?

Es ist schon bemerkenswert, wie ausgiebig in Deutschland in den letzten Wochen über den argentinischen Präsidenten Javier Milei und die Bilanz seines ersten Regierungsjahres berichtet und diskutiert wird. Nicht nur in den Medien, auch in der deutschen Spitzenpolitik wird darum gestritten, ob Mileis Politik eher ein Vorbild oder ein abschreckendes Beispiel ist. 

Unumstritten ist Mileis Erfolg bei der Bekämpfung der Inflation. Von 25,5 Prozent im Dezember 2023 sank die monatliche Inflationsrate auf zuletzt 2,4 Prozent im November 2024. Diese Stabilisierung der Preise, nachdem Ende 2023 eine drohende Hyperinflation im Raum stand, ist die sicher wichtigste Erklärung für Mileis hohe Zustimmungsrate in der Bevölkerung. Die Reduzierung der Inflation wurde jedoch teilweise durch eine von der Zentralbank gesteuerte reale Aufwertung des Peso erreicht, die mittlerweile bedrohlich die Wettbewerbsfähigkeit der argentinischen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb beeinträchtigt. 

Beeindruckende Makro-Bilanz 

Besonders beeindruckend ist der Abbau des Staatsdefizits von fünf Prozent des BIP auf Null, gleich im ersten Regierungsjahr. Dadurch konnte die Hauptquelle für die Inflation trockengelegt werden. Risiken lauern jedoch weiterhin in der hohen Verschuldung und den kurzfristigen Fälligkeiten. Bisher ist das trickreiche Schuldenmanagement des aus der Finanzwelt stammenden Wirtschaftsministers Luis Caputo in engem Zusammenspiel mit seinem früheren Geschäftspartner Santiago Bausili an der Spitze der weiterhin von der Regierung kontrollierten Zentralbank jedoch erfolgreich. 

Die extrem harte Anpassungspolitik der Regierung ist freilich mit hohen sozialen Kosten verbunden. Der Ausgleich der Staatsfinanzen wurde nicht nur durch die Halbierung der Anzahl der Ministerien und die Entlassung von 30.000 Staatsbediensteten erzielt, sondern vor allem durch drastische Einkommenseinbußen bei Rentnern und Staatsdienern, den starken Abbau der Subventionen für Transport und Energieversorgung – mit entsprechender Erhöhung der Tarife für Bevölkerung und Unternehmen – sowie durch den fast vollständigen Stopp öffentlicher Investitionen und die drastische Kürzung von Überweisungen an die Provinzen, obwohl diese in Argentinien für Bildung und Gesundheit zuständig sind. Die drastischen Einsparungen an den öffentlichen Universitäten führten zu den für die Regierung bisher bedrohlichsten Protesten auf der Straße, da sie von einer breiten Beteiligung aller Gesellschaftsschichten getragen wurden. 

Rezession bald überwunden? 

Die durch den Anpassungskurs der Geld- und Fiskalpolitik zunächst verschärfte Rezession scheint in gesamtwirtschaftlicher Sicht inzwischen den Tiefpunkt durchschritten zu haben, allerdings mit sehr unterschiedlicher Entwicklung in den einzelnen Wirtschaftszweigen. Das BIP-Minus 2024 wird mit rund 3 Prozent geringer ausfallen, als zeitweise befürchtet. Für 2025 wird eine kräftige Erholung von mindestens 4 Prozent erwartet, einige jüngste Prognosen liegen eher bei 5 Prozent. Wurde die Erholung zunächst ausschließlich von den Rohstoffsektoren Agrar, Bergbau, Öl und Gas getragen, zeigt inzwischen auch die verarbeitende Industrie erste Lebenszeichen. Das Baugewerbe liegt dagegen noch völlig am Boden, auch wenn die starke Belebung des Immobilienmarktes ein Frühindikator für eine Erholung sein könnte. 

Auf der Nachfrageseite wird die konjunkturelle Erholung von den Exporten getragen, insbesondere von der Normalisierung der Agrarexporte nach Überwindung der schweren Dürre des Vorjahres, zunehmend aber auch von der Wende in der Energie-Handelsbilanz, mit steigenden Exporten von Öl und Gas sowie der Substitution entsprechender Importe durch die Ausweitung der Produktion von Schieferöl- und -gas in der Region Vaca Muerta. 

Trotz Armut Hoffnung und Zuversicht 

Auch das Konsumklima hellt sich allmählich auf. Löhne und Renten steigen wieder etwas schneller als die Preise. In Dollar oder Euro hat die Kaufkraft der argentinischen Einkommen sogar stark zugenommen, was zunehmend die Importnachfrage anheizt. Kredite sind wieder verfügbar, wenngleich noch in sehr geringem Umfang.  

Was in vielen Bilanzen des ersten Regierungsjahres nicht berücksichtigt wurde: Die in den ersten Monaten der Milei-Regierung nochmals stark gestiegene Armutsrate sinkt langsam wieder. Ausgehend von dem katastrophalen Höhepunkt bei fast 55 Prozent der Bevölkerung im ersten Quartal 2024 könnte die Armutsrate gemäß den Projektionen des Observatoriums für soziale Schulden Argentiniens (ODSA) an der katholischen Universität (UCA) am Ende des ersten Regierungsjahres von Präsident Milei gegenüber dem Vorjahr sogar leicht gesunken sein. Nicht von ungefähr haben sich auch die von der Di-Tella-Universität monatlich erhobenen Indikatoren für die Zuversicht der Konsumenten und das Vertrauen in die Regierung zuletzt stark verbessert.  

Investitionen nehmen Anlauf  

Auch bei den Investitionen zeigt sich ein leichter Aufwärtstrend, der 2025 an Kraft gewinnen dürfte. Allein im Rahmen des Förderregimes für große Investitionen RIGI haben in- und ausländische Unternehmen in Sektoren wie Infrastruktur, Bergbau, Stahl, Energie, Automobil, Technologie, Öl und Gas bereits Projekte für 11,8 Milliarden Dollar angemeldet. Das entspricht rund 2 Prozent des BIP. Weitere Großvorhaben dürften bald folgen, um die extrem attraktiven, aber zeitlich auf zwei Jahre begrenzten Anreize des Förderregimes auszuschöpfen und für 30 Jahre festzuschreiben – garantiert durch eine frei wählbare internationale Schiedsgerichtsbarkeit. 

Feiern können zum Jahresende aber vor allem Finanzinvestoren, sofern sie rechtzeitig auf Mileis Erfolg in Argentinien gesetzt haben. Die Kurse von Argentiniens lange geschmähten Staatsanleihen haben sich etwa verdreifacht, der Renditeaufschlag gegenüber amerikanischen Staatstiteln - das „Länderrisiko“ - sank von 2000 auf 700 Basispunkte. Auch argentinische Aktien stürmen von einem Rekord zum nächsten, der Peso ist mit einem Mal eine starke Währung geworden. Zu stark vielleicht für das Wohl der argentinischen Industrie und Dienstleister.  

Argentiniens Zentralbank hat bislang unbeirrt an ihrem Abwertungsrhythmus von 2 Prozent monatlich festgehalten, obwohl die Inflation über weite Strecken des Jahres deutlich darüber lag. Das hat Argentinien für Ausländer wieder zu einem teuren Land gemacht, auch zu den verschiedenen Parallelkursen, die kaum noch über dem offiziellen Dollar-Wechselkurs liegen und ebenfalls von der Notenbank „gepflegt“ werden. 

Teures Argentinien 

Viele Argentinier werden in diesem Sommer den Urlaub im Ausland verbringen, weil es im eigenen Land schlicht zu teuer ist. Jeden Tag fahren überdies Dutzende Busse voller Argentinier zum Einkaufen ins Nachbarland Chile. Internationale Banken weisen eher verhalten auf die zunehmenden Abwertungsrisiken hin, unabhängige Experten warnen wesentlich deutlicher vor den Risiken eines abermaligen Crashs, wenn die Regierung nicht rechtzeitig gegensteuert. 

Bei aller Liebe zur radikalen Freiheit der Märkte scheinen Milei und sein Team vorerst nicht bereit zu sein, auch die Währung dem freien Spiel der Kräfte auszusetzen oder auch das Abwertungstempo auch nur moderat zu erhöhen. Im Gegenteil: Caputo stellt eine Senkung des “crawling peg” auf 1 Prozent monatlich in Aussicht.  

Die Devisenbeschränkungen (“cepo”) sind im Laufe des Jahres zwar sukzessive gelockert worden. Eine völlige Freigabe ist jedoch vorläufig nicht zu erwarten. Ein Devisenpolster, mit dem die Zentralbank den Pesokurs gegebenenfalls am Markt verteidigen könnte, ist nach wie vor nicht vorhanden. Zu wichtig ist die Wechselkursstabilität aber für die weitere Eindämmung der Inflation, vor der wiederum die bisher hohe Popularität Mileis und die guten Chancen seines Lagers bei den Zwischenwahlen im Oktober 2025 abhängen. 

Die Fiskalpolitik als Stabilitätsanker 

Milei und Wirtschaftsminister Caputo bekräftigen immer wieder, dass der Ausgleich der Staatsfinanzen als Basis der Stabilisierung die absolut unverhandelbare oberste Priorität der Regierung ist. Und dass die Devisenbeschränkungen nur in dem Maße gelockert werden, wie die Voraussetzungen dafür gegeben sind und die Stabilität nicht in Gefahr gerät. Mit einer völligen Aufhebung der Devisenbeschränkungen („cepo“) ist mithin vorerst nicht zu rechnen, wohl aber mit einer weiteren schrittweisen Lockerung wie zuletzt für die Deviseneinnahmen von Dienstleistungsexporteuren, die künftig 36.000 US-Dollar im Jahr für sich behalten dürfen, als Ausnahme von der generell weiter geltenden Pflicht zur Ablieferung von Devisen. Zudem sollen alle Transaktionen in Argentinien künftig in jeder beliebigen Währung getätigt werden können, bekräftigte Milei in seiner Rede an die Nation am 10. Dezember (außer Steuerzahlungen, „vorerst“). 

Ideologie und Pragmatismus 

Allein die vorsichtige Herangehensweise beim Abbau der Devisenrestriktionen zeigt schon, dass Mileis „Markt-Radikalität“ dort Grenzen findet, wo sie ihm politisch schaden könnte. Der Fortbestand von Sonderregimen zur Förderung bestimmter Wirtschaftsaktivitäten wie das Feuerland-Regime oder die Einführung der neuen Vergünstigungen des RIGI sind weitere Beispiele. Dennoch schreitet die Deregulierung der Wirtschaft unter Führung des damit beauftragten Ministers Federico Sturzenegger beinahe jeden Tag ein Stück weiter voran.  

 

Auf internationaler Ebene zeigt sich Milei ebenso wie im eigenen Land in der ideologischen Rhetorik aggressiv und unnachgiebig, aber dennoch pragmatisch, wo nötig. So hat Milei am Ende die Schlusserklärung des G20-Gipfels in Rio unterschrieben und lediglich in einer Fußnote seine Kritik am „Sozialismus der Agenda 2030“ angebracht. Auch dem definitiven Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens steht Milei nicht im Wege, obwohl er den Mercosur selbst für gescheitert, zumindest aber stark reformbedürftig hält. 

Mileis Pläne für den Mercosur 

Im ersten Halbjahr 2025, in dem Argentinien den Vorsitz im Mercosur führt, will Milei einen Vorschlag vorlegen, um „Zoll-Hemmnisse zu beseitigen, die den Handel innerhalb des Verbundes behindern“, und überdies einen Versuch unternehmen, den gemeinsamen Außenzoll der Zollunion zu senken. Zudem tritt Milei für eine größere Autonomie der Mitgliedsstaaten gegenüber dem Rest der Welt ein, „damit jedes Land frei handeln kann, mit wem es will, wie es ihm passt“, wie Milei in seiner Rede zum Jahrestag seines Amtsantritts am 10. Dezember erklärte. Sein „erstes Ziel“ aber sei, nächstes Jahr ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten anzustoßen. Spannende Diskussionen im Mercosur sind damit vorprogrammiert. 

Die Wahl Donald Trumps in den USA bedeutet für Milei eine große moralische Unterstützung, nachdem der argentinische Präsident das ganze Jahr über zu den CPAC-Konferenzen der amerikanischen Rechtskonservativen in aller Welt getourt war und diese Gemeinschaft zuletzt auch in Buenos Aires empfing. Milei war der erste ausländische Staatschef, der Trump nach dessen Wiederwahl persönlich traf und in Mar-a-Lago zusammen mit Elon Musk überschwänglich feierte. Musk soll in der neuen amerikanischen Regierung ein Ministerium für Regierungseffizienz nach dem Vorbild Argentiniens führen. 

Trump ante portas - Chancen und Risiken für Argentinien

Wirtschaftlich birgt Trumps Wahl für Argentinien freilich Chancen und Risiken gleichermaßen. Milei macht sich Hoffnung, von Trump Unterstützung in den Verhandlungen mit dem IWF zu erhalten und auch Rückenwind für US-amerikanische Investitionen in Argentinien, zumal aus der Technologiebranche. Mit Hilfe von Musk, Meta, Google & Co. will Milei Argentinien zu einem „Hub für Künstliche Intelligenz“ machen.  

Nicht zuletzt wegen Trump sieht sich die argentinische Wirtschaft allerdings auch erheblichen externen Risiken ausgesetzt, die ihre Stabilität bedrohen könnten. Ein starker US-Dollar, verstärkt durch den Regierungswechsel in den USA, und eine potenzielle Abschottung der US-Wirtschaft könnten den globalen Handel beeinträchtigen. Zudem haben die Abwertung des brasilianischen Reals und sinkende Rohstoffpreise, insbesondere für Soja, das internationale Wettbewerbsumfeld für Argentiniens Unternehmen verschärft.  

Eine programmatische Rede zum Jahrestag 

In seiner Rede am 10. Dezember kündigte Milei überdies eine Beschleunigung und Vertiefung der Reformen an, unter anderem im Renten- und Steuersystem sowie eine „wirkliche Reform“ des Arbeitsrechts. Eine Steuerreform soll den Wust von 155 einzelnen Steuern durchforsten und einen steuerrechtlichen Wettbewerb unter den Provinzen fördern. In der Energiepolitik will Milei neben der Beschleunigung der Erdöl- und Gasförderung sowie dem Ausbau erneuerbarer Energien auch das argentinische Nuklearprogramm wiederbeleben und den Bau kleiner und mittlerer Reaktoren forcieren. 

Milei setzt darauf, dass die Argentinier ihre neu gewonnene Hoffnung nicht verlieren und darauf vertrauen, dass sich die schmerzhaften Einsparungen und Reformen diesmal wirklich auszahlen werden. In seiner Jubiläumsrede ermutigte er die Menschen, mit großen Plänen und Zuversicht ins kommende Jahr zu blicken. „Und dass die Kräfte des Himmels uns begleiten mögen“, schloss der Präsident. Ganz ohne “Carajo”. 

Kontakt: Carl.Moses(at)gmx.net, linkedin.com/in/carl-moses