Am 14. November fanden in Argentinien Parlamentswahlen statt, deren Ergebnisse als Barometer der aktuellen Stimmung im Land gelten. Im Ergebnis lag die Regierungsallianz knapp 10% hinter der Oppositionspartei und verlor damit die absolute Mehrheit im Senat, behält aber die relative Mehrheit in beiden Kammern. In den verbleibenden zwei Jahren der Amtszeit von Präsident Alberto Fernández sind Regierung und Opposition nun auf verstärkte Kooperation angewiesen.
Ergebnisse der Parlamentswahl
Parlamentswahlen finden in Argentinien alle zwei Jahre statt. Es werden dabei jeweils die Hälfte des Abgeordnetenhauses und ein Drittel des Senats erneuert. Die Wahlbeteiligung lag in diesem Jahr trotz Wahlpflicht lediglich bei 72%. Somit machten 28% der Argentinier keinen Gebrauch von ihrer Stimmpflicht, was als Desinteresse an der Politik, aber auch als Ablehnung gegenüber dem gesamten politischen System gedeutet werden kann.
Auf nationaler Ebene konnte die Regierungsallianz Frente de Todos (FdT) 33% der Wählerstimmen auf sich vereinen, die Oppositionsallianz Juntos por el Cambio (JxC) kam auf fast 42%. Insgesamt gewann sie in 13 der 24 Provinzen. FdT konnte in neun Provinzen den Spitzenplatz belegen. In zwei Provinzen gewannen regionale Allianzen.
Randparteien auf Erfolgskurs
Eine nicht außer Acht zu lassende Entwicklung ist der Erfolg von Randparteien. Die trotzkistische Frente de Izquiera y de los Trabajadores (FIT) wurde landesweit drittstärkste Kraft mit rund 6% der Stimmen. Die erst vor zehn Jahren formierte Partei gewann vier Sitze im Abgeordnetenhaus.
In der Stadt Buenos Aires schaffte es Javier Milei, Kandidat der libertären Anti-System Partei La Libertad Avanza, mit 17% der Wählerstimmen auf den dritten Platz. Seine Partei wird fortan voraussichtlich mit drei Sitzen im Abgeordnetenhaus vertreten sein. Er gilt bisher als Stadtphänomen, nach Bekanntgabe der Ergebnisse kündigte Milei jedoch an, dass seine Partei „ab morgen durch alle Ecken Argentiniens reisen [werde], damit im Jahr 2023 in jeder Ecke des Landes libertär gewählt werden kann".[1]
In der Provinz Buenos Aires erreichte die als rechts-liberal geltende Partei Avanza Libertad von José Luis Espert mit 7,5% der Stimmen den dritten Platz.
Analyse der Ergebnisse: Konsens statt Konfrontation ist die neue Maxime
Obwohl die Oppositionsallianz JxC einen klaren Sieg bei den Parlamentswahlen erringen konnte, wird sie weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat über die relative Mehrheit verfügen.
Im Senat konnte JxC fünf Sitze hinzugewinnen und stellt nun 31 der 72 Senatoren. Die Regierungsallianz FdT liegt jedoch trotz des Verlustes von sechs Sitzen mit 35 Senatoren zahlenmäßig jedoch weiter vor JxC. Sie verliert aber ihre bisherige absolute Mehrheit, welche zur Beschlussfähigkeit erforderlich ist. Dieses Ergebnis ist für die kirchneristische Vize-Präsidentin Cristina Fernández und Vorsitzende des Senats besonders schmerzlich. Die Aussichten der Verabschiedung einer Justizreform, welche der Vize-Präsidentin Straffreiheit nach Ausscheiden aus der Regierung erleichtern würde, sind nun sehr gering.
Im Abgeordnetenhaus wird FdT ab dem 10. Dezember 2021 auf 118 Abgeordnete (vorher: 120) kommen, die größte Oppositionsallianz JxC erreicht 116 (vorher 115). Die Regierungsallianz wird folglich auch weiterhin die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus bleiben. Damit bleibt die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses nach der Wahl fast unverändert.
Fazit und Ausblick: Der Kirchnerismus verliert seine magnetische Anziehungskraft
Die Mehrheit der Meinungsforscher in Argentinien ist sich darüber einig, dass das Resultat der Parlamentswahl keine Überraschung darstellt. Die Abweichung zum Ergebnis der Vorwahlen im September war minimal. Das Oppositionsbündnis JxC hatte ein besseres Abschneiden erhofft, die Regierungsallianz FdT eine gravierendere Niederlage befürchtet. Beide Szenarien sind nicht eingetreten.
Führende Analysten beobachten aber eine politische Entwicklung, die diese Parlamentswahl von früheren Wahlen in den letzten zwei Dekaden hervorhebt: Es sind erste Ansätze einer Schwächung des Kirchnerismus als prägende Bewegung innerhalb des Peronismus zu erkennen. Im bevölkerungsreichen und besonders von Armut betroffenen Vorstadtgürtel um die Hauptstadt Buenos Aires, in dem fast zwölf Mio. Menschen leben, hat der Kirchnerismus zwar die Wahl gewonnen, jedoch deutlich an Wählerstimmen verloren. Diese Region galt bisher als Bollwerk des harten Kirchnerismus. Sollte sich dieser Trend in den nächsten Monaten und Jahren verschärfen, droht dem Kirchnerismus ein massiver Bedeutungsverlust. Dieses Machtvakuum könnte von einer anderen (noch nicht klar definierbaren) Strömung innerhalb des Peronismus gefüllt werden.
In den Startlöchern positionieren sich aber bereits Vertreter des sogenannten „föderalen Peronismus“, die sich für mehr Dezentralisierung und bessere föderale Strukturen einsetzen, sich vom linkspopulistischen Kirchnerismus distanzieren und innerhalb des politischen Spektrums die Mitte repräsentieren.
Gewinner der Parlamentswahl ist die älteste Partei Argentiniens, die 1889 gegründete Unión Cívica Radical (UCR), die bisher als Juniorpartner der Propuesta Republicana (PRO) am Wahlbündnis JxC beteiligt ist. Die meisten Erfolge von JxC in den Provinzen des Landes sind auf die guten Ergebnisse der UCR zurückzuführen. Die UCR hat sich in den letzten zwei Jahren politisch erneuert und stellt die Führungsrolle von PRO innerhalb des Wahlbündnisses immer deutlicher infrage.
Die Parteien an beiden Rändern des politischen Spektrums gehen gestärkt aus der Parlamentswahl 2021 hervor und finden Einzug im Parlament. Dies ist insofern erwähnenswert, weil politische Randpositionen in Argentinien bisher unüblich waren. Fest steht, dass die politische Landschaft in Argentinien vielfältiger geworden ist.
Für die Regierung von Alberto Fernández scheint es nur noch einen Weg zu geben, um das Land in den kommenden zwei Jahren seiner Amtszeit zu regieren: die Suche nach Konsens mit der Opposition. Die Exekutive wird in Zukunft alle Gesetzesvorhaben mit der Opposition abstimmen müssen. Dies wird kein einfaches Unterfangen. Schon bei den anstehenden Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds zur Refinanzierung der argentinischen Auslandsschulden sind die Positionen der Regierungsallianz und des Oppositionsbündnisses weit voneinander entfernt. Aber auch bei zukunftsentscheidenden Themen wie der längst fälligen Arbeits- und Justizreform weichen die Positionen weit voneinander ab. Alberto Fernández hat unmittelbar nach der Wahl zum Dialog mit der Opposition aufgerufen. Dieser Appell erinnert an seine Amtsantrittsrede im Dezember 2019. Damals forderte er alle Argentinier auf, gemeinsam für den Wiederaufbau des Landes an einem Strang zu ziehen. Der Ruf nach Konsens blieb ohne Folgen. Alberto Fernández übernahm sehr rasch linkspopulistische kirchneristische Positionen und vereitelte jegliche Kooperationsbestrebung mit der Opposition. Jetzt muss er zeigen, dass dieser erneute Aufruf zur Zusammenarbeit ernst gemeint ist. Die meisten Argentinier bleiben jedoch skeptisch.
Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), vollständiger Artikel: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/keine-ueberraschungen-bei-parlamentswahl-in-argentinien
Einen ausführlichen Länderbericht inkl. Grafiken können Sie hier herunterladen.
[1] https://www.lanacion.com.ar/politica/con-javier-milei-en-modo-rockstar-preparan-una-fiesta-liberal-en-el-luna-park-nid14112021/