AHK News

Die Mächte des Himmels und ihre irdische Unterstützung

19.06.2024

Was soll und was kann den ersehnten Aufschwung der Wirtschaft in Argentinien tragen? Das Investitionsförderregime RIGI könnte ein Turbo für Großprojekte werden.

Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika

Die letzten zwei Wochen seines ersten Regierungshalbjahres waren für Argentiniens Präsidenten Javier Milei Warnung und Ermutigung zugleich. Zunächst verdeutlichte ihm das Abgeordnetenhaus, wie schwach seine Position im Parlament ist, als die Abgeordneten eine Rücknahme der von Milei erwirkten Rentenkürzungen beschlossen. Doch schon in der Woche darauf konnte Milei seinen ersten großen Erfolg im Parlament verbuchen, als das grundlegende Reformgesetz “Ley Bases” nach langen und zähen Verhandlungen den Senat passierte. Trotz etlicher Änderungen an der Regierungsvorlage gibt das Gesetz Milei immer noch kraftvolle Instrumente zur Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft sowie zur Verschlankung des Staates.  Zumal in der abschließenden Behandlung durch die Abgeordnetenkammer noch einige Nachbesserungen im Sinne des Regierungsentwurfs zu erwarten sind, nicht zuletzt beim Steuerrecht. 

Milei bemüht gerne ein Bild aus dem alten Testament um seine Zuversicht zu untermauern, auch ohne eigene Parlamentsmehrheit und trotz seiner institutionell extrem schwachen politischen Machtbasis die Erneuerung Argentiniens voranbringen zu können. Die Makkabäer zitierend, pflegt Milei zu bekräftigen, “entscheidend sei nicht die Zahl der Kämpfer, sondern deren Wille und Entschlossenheit”. Der libertäre Präsident fühlt die “Mächte des Himmels” auf seiner Seite - seine Anhänger tragen vielfach Kappen mit einer entsprechenden Aufschrift. 

Dennoch haben Milei und sein engstes Umfeld offenbar erkannt, dass es ohne breitere politische Unterstützung und irdisch greifbare Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage nicht sehr weit vorangehen wird mit der Reformierung Argentiniens. Die Aufwertung des bisherigen Innenministers und Chefunterhändlers Guillermo Francos durch seine Berufung zum Kabinettschef (unter Beibehaltung seiner bisherigen Funktionen) untermauert dies. Bei aller Aggressivität des Auftritts von Präsident Milei in den Medien wird hinter den Kulissen mehr denn je verhandelt.  

Um die nach wie vor hohen Zustimmungswerte des Präsidenten in den Umfragen halten zu können, müssten im Laufe der nächsten Monate positive Resultate der Anpassungs- und Reformpolitik spürbar werden. Der viel gepriesene Ausgleich der Staatsfinanzen und der unerwartet schnelle Rückgang der Inflation wurden durch eine schwere Rezession erkauft. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes könnte bei vielen Argentiniern bald größer sein als die bisherige Hauptsorge um die Inflation. Die Talsohle der Konjunktur scheint indes erreicht zu sein. Im zweiten Halbjahr wird eine Erholung der Wirtschaft erwartet.  

Uneinigkeit besteht darüber, wie stark und wie nachhaltig der Aufschwung ausfallen mag. Unabhängige Experten rechnen mit einer eher langsamen Belebung, auch die Regierung ist mit ihren Prognosen einer V-förmigen Erholung vorsichtiger geworden. Für das Gesamtjahr 2024 erwarten Ökonomen laut Umfrage der Zentralbank einen Rückgang des BIP um 3,8 Prozent, dem 2025 eine Erholung um 3,4 Prozent folgen soll. Optimistischer sind die Prognosen von IWF und Weltbank, die davon ausgehen, dass einem BIP-Minus um 3,5 Prozent im laufenden Jahr eine sehr viel kräftigere Erholung um 5 Prozent im nächsten Jahr folgen wird.  

Was aber sind die möglichen Triebkräfte für den Aufschwung? An erster Stelle steht die Agrarwirtschaft, deren Produktion sich nach der verheerenden Dürre des Vorjahres tatsächlich in Form eines V erholt. Auch der Bergbau erlebt ein kräftiges Wachstum, das sich in den kommenden Jahren noch erheblich verstärken dürfte. 

Die Realeinkommen sollten in den kommenden Monaten wieder leicht zunehmen, da sich der Effekt der verzögerten Anpassung von Löhnen und Renten an die Inflation nun positiv auf die Kaufkraft auswirken wird, auch wenn die tiefe Rezession den Lohnerhöhungen noch Grenzen setzt. Gleichzeitig kommt die Kreditvergabe an den Privatsektor allmählich wieder in Schwung - allerdings von einem extrem niedrigen Niveau ausgehend.  

Mittel- und längerfristig werden besonders starke Impulse von dem neuen Investitionsförderregime RIGI erwartet. So umstritten das Regime aufgrund seiner großzügigen Vorteile für einzelne große Investitionen in bestimmten Sektoren ist, so wenig Zweifel dürfte daran bestehen, dass es geeignet ist, eine beachtliche Anzahl von Großprojekten in Bergbau, Energiewirtschaft und Infrastruktur anzustoßen (siehe den gesonderten AHK-Bericht). Das für zwei oder maximal drei Jahre geltende RIGI lässt sich mit seinen umfassenden Zoll- und Steuervergünstigungen als ein zeitlich befristetes “Sonderangebot” verstehen, bei dem sich schnell entschlossene Investoren dauerhafte Vorteile sichern können.  

Die Sorge, dass es unter künftigen Regierungen Änderungen an den im RIGI gewährten Vorteilen geben könnte, scheint übertrieben. Ein ähnliches, in den 90er Jahren eingeführtes Bergbau-Regime wurde im Großen und Ganzen von allen folgenden Regierungen jedweder politischen Couleur eingehalten. Bis zu den Beschränkungen des Devisen- und Kapitalverkehrs unter den Kirchner-Regierungen. Neben der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ist die freie Verfügbarkeit über künftige Deviseneinnahmen vielleicht die wichtigste Garantie für Investoren, um tatsächlich Milliarden Dollar oder Euro in exportorientierte Großprojekte zu stecken. Was in anderen Ländern selbstverständlich ist, gilt in Argentinien noch als großzügige Ausnahmeregel.  

Zur Wiederbelebung des Wachstums könnte auch die Monetisierung der Wirtschaft durch die Auflösung von gehorteten Dollarreserven der Argentinier beitragen - sei es für den Konsum oder für Investitionen. Pesos sollten weiter knapp bleiben und im Wesentlichen nur durch den Ankauf von Devisen durch die Zentralbank neu in Umlauf kommen, jedoch keinesfalls mehr durch Geldschöpfung zur Deckung eines Staatsdefizits. Unter Ökonomen wird bereits eine sich abzeichnende Überbewertung des Peso diskutiert. Wenn Milei mit seinem Stabilisierungsprogramm Erfolg hat, dürfte Argentinien in ausländischer Währung vorerst noch teurer werden. Produktivitätssteigernde Investitionen müssten die Wettbewerbsfähigkeit sichern und das Wachstum tragen. Der IWF erwartet für 2025 und 2026 zweistellige Zuwachsraten der Investitionen - was gerade ausreichen würde, den Einbruch dieses Jahres auszugleichen.

Der größte Unsicherheitsfaktor bleibt die Entwicklung der Politik. Wie weit reicht die Geduld der Argentinier, die sozialen Härten zu ertragen und auf spürbare Resultate des Aufschwungs zu warten? Beginnt Milei politisch bald zu schwächeln, so dass die Opposition sich aus der Defensive traut? Die einzigen, die sich bisher klar und eindeutig gegen den populären Präsidenten stellen, sind die Linksperonisten, die allerdings noch desorientiert und führungslos wirken. Sollte Milei krachend scheitern, könnte dies den Peronisten die Basis für eine Rückkehr an die Macht bereiten. Vorerst jedoch haben sich die Milei-Regierung und die gemäßigte Opposition aufeinander zubewegt und elementare Kompromisse zur Stabilisierung von Wirtschaft und Politik geschlossen. 

Kontakt: Carl.Moses(at)gmx.net, linkedin.com/in/carl-moses