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Argentiniens Reformen starten durch

25.09.2024

Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika

Mit der Verabschiedung des Basisgesetzes "Ley Bases" zur "wirtschaftlichen Befreiung Argentiniens" ist das Reformprogramm der Milei-Regierung in eine neue Phase eingetreten. Ausgestattet mit Sondervollmachten für ein Jahr, nutzt der neue Minister für Deregulierung und Staatsreform die erweiterten Befugnisse umfassend, um veraltete Strukturen in der Verwaltung zu beseitigen und das Land von Grund auf zu erneuern. Doch Mileis Popularität nimmt ab.

Seit Jahresmitte 2024 hat die Regierung von Präsident Javier Milei eine neue Etappe der Wirtschaftspolitik, “Phase 2” genannt, eingeläutet. Zum einen soll eine schrittweise Beendigung der heimischen Geldemission die Inflation dauerhaft ausmerzen und dazu führen, dass der Peso allmählich durch den Dollar und andere Währungen ersetzt wird. Diesen “endogenen” Prozess, der langfristig zur Schließung der Zentralbank führen soll, erklärte Präsident Milei Anfang September auf einer Konferenz von Finanzexperten. Die aufgrund des anhaltenden Devisenmangels fortbestehenden Restriktionen des Devisen- und Kapitalverkehrs werden unterdessen nur scheibchenweise gelockert.

Zum anderen hat seit Jahresmitte das Tempo der Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft sowie der Reform von Staat und Verwaltung nochmals an Fahrt aufgenommen. Mit der Verabschiedung des umfassenden Reformgesetzes "Ley Bases" zur "wirtschaftlichen Befreiung Argentiniens" Ende Juni 2024 hat die Regierung für ein Jahr Sondervollmachten erhalten, um weite Teile der Wirtschaft und der Verwaltung des Landes per Dekret umzukrempeln. Auch das bereits Ende 2023 erlassene Notdekret 70/2023, das unter anderem die von der BILD-Zeitung und dem Wall Street Journal gleichermaßen gepriesene Lockerung des Mietrechts in Argentinien ermöglicht hat, ist weiterhin in Kraft.

Auf dieser gesetzlichen Basis erlässt Mileis Chef-Reformer Federico Sturzenegger - inzwischen zum Minister “für Deregulierung und Transformation des Staates” ernannt - quasi täglich neue Verordnungen, um staatliche Interventionen abzubauen und die Freiheitsräume der Wirtschaft zu vergrößern. Sturzeneggers Credo: Es geht nicht darum, Verwaltungsvorgänge zu vereinfachen, sondern sie abzuschaffen, wo immer möglich. “Wer versucht, den Staat zu modernisieren, düngt bloß das Unkraut”, so Sturzenegger.

Neben Flaggschiff-Reformen wie der Deregulierung des Luftverkehrs oder des Miet- und Arbeitsrechts sollen viele kleine Einzelmaßnahmen das Leben der Bürger und die Arbeit der Unternehmen erleichtern. Beispiele sind die längere Gültigkeit von Führerscheinen, die Vereinfachung der Zulassung oder Ummeldung eines Fahrzeugs sowie die Erleichterung des Außenhandels durch die Abschaffung von Genehmigungspflichten und der Anerkennung von ausländischen Prüfzertifikaten bei der Einfuhr von Waren.

Im Arbeitsrecht wurde neben einer Verlängerung den Probezeiten die Kategorie des selbständigen Mitarbeiters mit eigenen Angestellten eingeführt, die es ermöglicht, bis zu drei Arbeitnehmer ohne feste Arbeitsverträge zu beschäftigen. Zudem wird eine optionale Regelung der Abfindung bei Kündigungen eingeführt, ähnlich einem in der Baubranche bereits existierenden System, das Unternehmen und Arbeitnehmern erlaubt, Abfindungsregelungen frei zu vereinbaren. Bei Arbeitskonflikten dürfen Arbeitgeber ab sofort Kündigungen gegen Beschäftigte aussprechen, die sich an Kampfmaßnahmen wie Blockaden oder Betriebsbesetzungen beteiligen.

Während sich die gesamtwirtschaftliche Konjunktur nur langsam erholt, hat sich die soziale Lage im Land weiter verschlechtert - zum Teil auch infolge der Reformen. So hat die Flexibilisierung des  Mietrechts zwar zu einer deutlichen Erhöhung des Angebots von Neuvermietungen geführt. Zugleich sind nach der Aufhebung der argentinischen Version einer Mietpreisbremse aber auch die Preise der Bestandsmieten drastisch gestiegen. Während einige Argentinier endlich eine Wohnung finden, sind viele andere zum Umzug gezwungen, weil sie sich die bisherige Wohnung nicht mehr leisten können. Zugleich steigt die Angst der Menschen vor Arbeitsplatzverlust und Verarmung. Die Armutsrate hat neue Rekordstände erreicht - mehr als die Hälfte der Argentinier gelten nach Daten der katholischen Universität UCA inzwischen als arm, nach Kalkulation der privaten Beratung ExQuanti leben sieben von zehn Kindern in Armut. 

So überrascht es kaum, dass die Popularität von Präsident Milei nach neun Monaten drastischer Sparpolitik und zum Teil sehr schmerzlicher Reformen inzwischen deutlich abnimmt. Der viel beachtete Index des Vertrauens in die Regierung (ICG), den die Di-Tella-Universität (UTDT) monatlich ermittelt, ist allein im September um 15 Prozent eingebrochen und nähert allmählich der ebenfalls von der UTDT gemessenen und anhaltend negativen Stimmung der Verbraucher.

Während Milei bei öffentlichen Auftritten seinem aggressiven Stil treu bleibt, zeigt sich die Regierung hinter den Kulissen zunehmend flexibel im Umgang mit möglichen Partnern in den gemäßigten Teilen der Opposition. So ist es Milei trotz der extrem schwachen Position der Regierungspartei LLA im Parlament immerhin gelungen, wechselnde Mehrheiten für seine Reformvorhaben zu schmieden. Jüngst formierte der Präsident zudem eine „defensive Minderheit“ aus einem Drittel der Kongressmitglieder, mit der er die Oppositionsmehrheit in Schach halten kann. So verhinderte Milei erfolgreich eine Überstimmung seines Vetos gegen eine vom Kongress beschlossene Rentenerhöhung, die den Ausgleich der Staatsfinanzen – sein mit Abstand wichtigstes Anliegen – gefährdet hätte.

Ein Vorteil für Milei: In der Opposition dominieren ausgerechnet Ex-Präsidentin Cristina Kirchner und ihre linksperonistischen Anhänger die Debatte. Dies erlaubt Milei, die Polarisierung mit jener „alten Politik“ weiter voranzutreiben, der die Argentinier bei den letzten Wahlen eine klare Absage erteilt hatten. Diese Polarisierung könnte Milei noch eine Weile politisch tragen. Doch spätestens nach Ablauf der bis Mitte 2025 geltenden Sondervollmachten wird Milei wohl noch stärker auf die reformfreundlichen Kräfte im Parlament zugehen müssen, um handlungsfähig zu bleiben. Tendenziell marktfreundliche Kräfte stellen im argentinischen Parlament eine Mehrheit, die sich bei den Zwischenwahlen in einem Jahr noch vergrößern könnte. Dies ist wichtig für die Einschätzung der mittel- und längerfristigen Perspektiven Argentiniens: Selbst wenn Milei den richtigen Zeitpunkt für Kompromisse verpassen sollte, kann die marktwirtschaftliche Reformpolitik trotzdem weitergehen - möglicherweise auch ohne Milei.

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