VON CARL MOSES, KORRESPONDENT DER GERMANY
TRADE & INVEST IN BUENOS AIRES
Politische Unwetter überdecken derzeit in den Medien sogar die Wirtschaftskrise. Doch der Devisenmangel bleibt ein bedrückendes Thema. Eine Rezession scheint kaum zu vermeiden. Gleichzeitig gewinnt der Wettlauf um Argentiniens Lithium an Fahrt. Auftrieb für den Mercosur nach der Brasilienwahl?
Nach dem gescheiterten Anschlag auf das Leben von Ex- und Vizepräsidentin Cristina Kirchner überdeckt die Innenpolitik derzeit in Argentinien die Nachrichten über die angespannte Wirtschaftslage. Bereits der gegen Kirchner laufende Korruptionsprozess und die Forderung des Staatsanwalts nach 12 Jahren Gefängnis für die starke Frau der Regierungskoalition hatte das innenpolitische Klima extrem angeheizt. Selbst der Schock des Attentats hat Argentinien nicht zusammenrücken lassen, sondern die politischen Gräben zusätzlich vertieft. Dennoch sieht der renommierte Politikanalyst Carlos Pagni erste Anzeichen für die Suche nach einem Minimalkonsens zwischen den verfeindeten politischen Lagern in der zerrissenen argentinischen Gesellschaft. Dabei gehe es nicht allein um die Verhütung weiterer Gewalt. Auch die grundlegenden wirtschaftlichen Probleme des Landes seien ohne Konsens nicht in den Griff zu bekommen.
Auch in der Wirtschaft haben sich die Gegensätze akzentuiert. Auf der einen Seite konsumieren die Angehörigen der höheren und mittleren Einkommensschichten, was das Zeug hält, um die von rasantem Wertverlust bedrohten Pesos loszuwerden. Andererseits gerät das untere Ende der Einkommenspyramide angesichts der galoppierenden Inflation immer stärker unter Druck. So steht einem kräftig steigenden Absatz von Hausgeräten und den vollen Restaurants in Buenos Aires gleichzeitig ein Rückgang der Verkäufe von Lebensmitteln in den Supermärkten gegenüber.
Der durch die Flucht in Sachwerte genährte Aufschwung von Konsum und Investitionen scheint an seine Grenzen zu stoßen, nicht zuletzt, weil die zum offiziellen Wechselkurs verfügbaren Devisen für Importe in den letzten Monaten immer knapper geworden waren. Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Devisenknappheit erhält der neue Wirtschaftsminister Sergio Massa für Sparmaßnahmen im Staatshaushalt und für die teilweise Lockerung der Devisenrestriktionen nun jenen politischen Freiraum, der seinen Vorgängern von der peronistischen Regierungskoalition verwehrt geblieben war. So wurden die Energiepreise vor allem für besser gestellte Haushalte ab September drastisch erhöht. Durch vorübergehende Wechselkurs-Zugeständnisse konnte Massa die Agrarwirtschaft locken, einen Teil ihrer gehorteten Sojabestände auf den Markt zu werfen und mit den entsprechenden Exporteinnahmen erstmals eine leichte Erholung der Devisenreserven zu ermöglichen. Weitere Sonderregelungen auf dem Devisenmarkt sind auch für andere Branchen im Gespräch und teilweise bereits in Kraft. Kurzfristige Fälligkeiten von Staatsanleihen wurden für einige Monate gestreckt, im Gegenzug gewährte die Regierung großzügige Garantien zum Ausgleich der Inflation und einer möglichen Abwertung.
Der mit erweiterten Zuständigkeiten ausgestattete “Superminister” Massa, der den eher konservativen und stark den USA zugewandten Teil der Peronisten vertritt, ist neben Cristina Kirchner zweifellos der einflussreichste Politiker in der Regierungskoalition und nun auch der neue starke Mann in der Regierung. Präsident Alberto Fernández, der nie über eine eigene Hausmacht im Parlament oder in der Partei verfügte, hat dagegen nur noch wenig politisches Gewicht und ist als Gesprächspartner für politische und wirtschaftliche Interessengruppen kaum noch relevant. Massa tourte im September eine Woche lang durch die Unternehmenswelt der USA und bekam am Ende seiner Reise einen ganz großen Bahnhof in Washington. Neben der IWF-Chefin Kristalina Georgieva traf Massa auch die amerikanische Finanzministerin Janet Yellen. Damit ist klar: Der IWF steht - vorerst zumindest - weiter hinter Argentinien. Auch andere multilaterale Geber machten neue Kredite locker.
Wie weit der neue Minister mit seiner angelaufenen Sparpolitik im Wahljahr 2023 kommt, bleibt indes abzuwarten. Von Stabilität kann angesichts einer Inflationsrate, die auf 100 Prozent zusteuert, jedenfalls keine Rede sein. Wenngleich die Zuspitzung der Devisenkrise vorerst gestoppt ist, erwarten Experten keine nachhaltige Entspannung. Die amerikanische Bank JP Morgan rechnet in Argentinien mit einer Rezession ab dem dritten Quartal 2022 und lediglich mit einer geringfügigen Erholung der Konjunktur im Vorfeld der für Oktober 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die argentinische Beratung Ecolatina präsentiert ihren Kunden ein Basisszenario mit einem BIP-Wachstum um fast 4 Prozent im laufenden Jahr und 1 Prozent in 2023, daneben aber auch ein pessimistisches Szenario mit einem BIP-Rückgang um 2,7 Prozent und einer Inflation von 137% im kommenden Jahr. Die Eintrittswahrscheinlichkeit sei für das bessere Szenario nur unwesentlich höher als für das schlechte.
Unabhängig von den unsicheren Konjunkturperspektiven beschleunigt sich der Wettlauf um die attraktiven Lithiumvorkommen Argentiniens. Anders als in Chile und Bolivien gilt der politische Rahmen für die Förderung in den Provinzen des argentinischen Nordwestens als günstig. Je nach der Entwicklung des Weltmarktes werde Argentinien seinen Anteil am globalen Lithiumangebot von derzeit rund 7 Prozent bis 2030 auf 17 bis 21 Prozent erhöhen, schätzt der Lithiumexperte der Deutschen Rohstoffagentur (DERA), Michael Schmidt. Nachdem chinesische Unternehmen in Argentinien in jüngster Zeit eine Lithiummine nach der anderen aufgekauft haben, ist nun auch ein deutsches Unternehmen im Rennen. Die Deutsche E-Metalle AG (DEM) aus Dresden hat sich vorgenommen, in Argentinien zusammen mit lokalen Partnern “eine der zehn Top-Lithiumreserven der Welt zu konsolidieren". Das Gemeinschaftsunternehmen Lithium Mining Corporation (LMC) erwartet 20 Millionen Tonnen Lithium im Wert von 1,4 Milliarden Dollar nachweisen zu können. Aufgrund der aktuell so hohen Explorationsaktivität in Argentinien seien die Kosten hoch und die Wartezeiten für entsprechende Dienstleistungen lang, sagt DEM-Vorstand Micha Zauner. Das Unternehmen baue darum ein eigenes Explorationsteam mit entsprechenden Ausrüstungen in Argentinien auf. Zur Finanzierung werde ein kleiner Teil der Firmenanteile an Privatinvestoren veräußert.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt Argentinien den Schlussspurt zu den Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Das große Nachbarland ist der wichtigste Exportmarkt, vor allem für die argentinische Industrie. Sollte in Brasilien Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva an die Macht zurückgelangen, könnte es zwischen Buenos Aires und Brasília im kommenden Jahr harmonischer zugehen. Unabhängig vom Ausgang der Wahlen in Brasilien ist davon auszugehen, dass die Gespräche zur Vollendung des 2019 in den Grundzügen bereits vereinbarten Abkommens zwischen dem Mercosur und der EU wieder in Gang kommen werden. Zu groß ist das Interesse Europas an einer stärkeren Zusammenarbeit mit Südamerika. Das Mercosur-freundliche Spanien übernimmt Mitte 2023 die Präsidentschaft in der EU. Dass Argentinien kürzlich die Aufnahme in die BRICS-Staatengruppe beantragt hat, und damit neben Südafrika - und möglicherweise zusammen mit Iran - diese Achse zwischen China, Russland und Indien verstärken wird, dürfte den Druck auf die EU noch erhöhen, den Mercosur stärker an sich zu binden. Das unvollendete Abkommen liegt als ideales Instrument dafür in der Schublade bereit.
Kontakt: Carl Moses, GTAI | carl.moses@gtai.de