Nach der Schlappe bei der Parlamentswahl muss die Regierung künftig mit der Opposition zusammenarbeiten - oder ihre Eingriffe in die Märkte noch verstärken. Die globale Energiewende bietet Argentinien derweil große Chancen für eine stärkere Integration in die Weltwirtschaft, denn die Ressourcen des Pampalandes sind heute mehr denn je gefragt.
Nach ihrer Niederlage bei der Parlamentswahl im November 2021 bemüht sich die Regierung von Präsident Alberto Fernández verstärkt um die Sicherung eines Minimums an wirtschaftlicher Stabilität für die zweite Hälfte ihrer Amtsperiode (bis Ende 2023). Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) werden beschleunigt. Bis spätestens März 2022 müsste ein Abkommen über die Refinanzierung der mehr als 40 Milliarden Dollar Schulden gegenüber dem IWF erzielt werden, da Argentinien die 2022 und 2023 fällig werdenden Tilgungsraten sonst kaum würde begleichen können.
Kompromisse mit IWF und Opposition angestrebt
Für den Abschluss des IWF-Abkommens wird die Regierung eine stärkere Zusammenarbeit mit der Opposition suchen müssen. Denn laut Gesetz muss jedes Abkommen mit dem IWF vom Parlament genehmigt werden. Dort hat die Regierung nun keine eigene Mehrheit mehr. Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 haben die regierenden Peronisten selbst im Oberhaus des Parlaments ihre absolute Mehrheit verloren. Wenn Argentinien vermeiden will, gegenüber dem IWF in Zahlungsrückstand zu geraten und so zum Paria der Finanzmärkte zu werden, muss also ein wirtschaftspolitischer Minimalkonsens mit Teilen der Opposition gefunden werden.
Die meisten wirtschaftlichen und politischen Analysten gehen inzwischen davon aus, dass ein Abkommen mit dem IWF zustandekommen wird. Welche Verpflichtungen Argentinien dafür eingehen wird, und ob die Bedingungen anschließend tatsächlich erfüllt werden, bleibt abzuwarten. Davon wird gleichsam abhängen, ob Argentiniens Verbraucher sowie in- und ausländische Investoren wieder Zuversicht und Vertrauen schöpfen.
Interessant wird sein, ob das Regierungsbündnis Frente de Todos im Kongress geschlossen zu den eventuellen Vereinbarungen mit dem IWF stehen wird. Die machtvolle Vizepräsidentin Cristina Kirchner hat zu erkennen gegeben, dass sie einem Abkommen mit dem IWF nicht im Wege stehen will, aber auch keine Verantwortung für schmerzhafte Sparmaßnahmen übernehmen möchte. Auch die Opposition sortiert sich neu. Positionskämpfe innerhalb der führenden Oppositionsparteien nehmen zu. Insgesamt sind nach der Parlamentswahl extreme Szenarien für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens deutlich weniger wahrscheinlich geworden, da ohne klare Mehrheiten die Suche nach Konsens unausweichlich erscheint.
Stabile Stagflation
Das wahrscheinlichste Wirtschaftsszenario für die nächsten zwei Jahre ist eine Fortsetzung der “stabilen Stagflation” des vergangenen Jahrzehnts. Seit 2011 ist Argentiniens Wirtschaft nicht gewachsen, während die Inflationsrate nie unter 20 Prozent sank und sich zuletzt bei 50 Prozent einpendelte. Die Konjunktur hat sich im Jahresverlauf 2021 immerhin stärker als erwartet von dem Corona bedingten Einbruch des Vorjahres erholt. So wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2021 um fast 10 Prozent zunehmen und damit den Rückgang des Vorjahres nahezu vollständig ausgleichen. In der Industrie liegt die Produktion bereits deutlich über dem Niveau vor Ausbruch der Pandemie, Handel und Dienstleistungen hinken dagegen noch hinterher. Eine anhaltende Flucht in Sachwerte angesichts der steigenden Inflation und die hohe Kaufkraft der Dollarrücklagen argentinischer Privathaushalte heizt vor allem die Nachfrage nach Autos und langlebigen Gebrauchsgütern an. Das Baugewerbe floriert, der Zementabsatz erreicht Rekordwerte.
Die Aussichten für 2022 und die Folgejahre sind indes bescheidener. Die von der Zentralbank befragten Experten prognostizieren für 2022 im Durchschnitt eine reale Zunahme des BIP um 2,5 Prozent und 2 Prozent für 2023. Der zunehmende Mangel an Devisen, daraus folgende Engpässe beim Import und die seit Jahren niedrige Investitionstätigkeit beschränken das Wachstumspotenzial.
Neuer Rohstoffboom
Trotz des eher dürftigen Makroszenarios tun sich in Argentinien äußerst interessante Geschäftsperspektiven auf. Die Rohstoffe des Pampalandes sind begehrter denn je. Die Landwirtschaft könnte 2022 eine neue Rekordernte von 145 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten einfahren. Auch in der Biotechnologie setzt Argentinien Maßstäbe. Der gegen Dürre resistente Genweizen HB4, der von dem Unternehmen Bioceres und dem Nationalen Wissenschaftsrat Conicet entwickelt wurde, erhielt jüngst die Zulassung auf dem wichtigsten Exportmarkt Brasilien.
Die globale Energiewende bietet Argentinien derweil eine einzigartige Chance für eine stärkere Integration in die Weltwirtschaft. Für die Erzeugung von grünem Wasserstoff wird Argentinien laut Bloomberg NEF 2030 zu den kostengünstigsten Standorten weltweit gehören. Im Rahmen des bilateralen Zukunftsforums Foro Futuro Argentina-Alemania wird neben Bildung und Digitalisierung die Entwicklung der grünen Wasserstoffwirtschaft einen Schwerpunkt der strategischen Zusammenarbeit mit Deutschland bilden. Der australische Konzern Fortescue will laut Angaben der argentinischen Regierung 8,4 Milliarden Dollar in die Produktion von grünem Wasserstoff und Ammoniak stecken. Parallel dazu lässt der globale Ausbau der Elektromobilität das Interesse an Argentiniens Lithium- und Kupferreserven steigen. So sicherte sich der Autobauer BMW in einem 300-Millionen-Dollar-Vertrag mit dem US-Konzern Livent bereits die mehrjährige Belieferung mit Lithium aus “verantwortungsvollem Abbau in Argentinien”.
Gleichzeitig sorgt der Frackingboom für einen zweiten Frühling der fossilen Energieträger in Argentinien. Das Schieferöl- und -gasgebiet Vaca Muerta meldet Monat für Monat Produktionsrekorde. Kurzfristig ist vor allem der Ölexport für die Förderunternehmen interessant, auf längere Sicht lockt zudem das Potenzial der hohen Gasreserven. Damit die angekündigten Großprojekte tatsächlich realisiert werden können, wird Argentinien allerdings die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen verbessern und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung stabilisieren müssen. Dann kann auch der von der Regierung angestrebte Auf- und Ausbau lokaler Wertschöpfungsketten gelingen.
Carl Moses
GTAI Buenos Aires